Martin Seidemann | Sabine Seidemann – Zeichen und Strukturen
Auszug aus der Laudatio zu der Ausstellung
Ich erinnere mich gut an die Zeit, in der ich Sabine und Martin Seidemann kennen lernte. Das war zu Beginn der achtziger Jahre. Martin Seidemann war damals Meisterschüler an der Akademie der Künste. Er lud mich ein, in sein Atelier zu kommen, um ihm dort Modell zu sitzen. Die Akademie stellte ihren Meisterschülern ein Ateliergebäude am Pariser Platz zur Verfügung. Es war, neben den Ausstellungshallen, ein übriggebliebener Gebäudeteil der ehemaligen Preußischen Akademie der Künste, von der das Hauptgebäude nicht mehr vorhanden war. Vom riesigen Pracht-Hotel Adlon war nur noch ein Seitenflügel stehen geblieben. Alle diese Gebäude, an denen sich fast 40 Jahre lang nach dem Krieg nichts änderte, warfen große Schatten auf den leeren und abgesperrten Pariser Platz. Zum Westen hin war das Gelände von der Berliner Mauer begrenzt und südlich begannen gerade Baukräne und Bagger, das Brachgelände der früheren Wilhelmstraße, über und unter der sich das Machtzentrum des „Dritten Reiches“ befunden hatte, für ein Neubaugebiet zu erschließen. Als hätte er geahnt, dass hier einmal wieder Künstler arbeiten werden, zog Bertold Brecht, der 1948 bei seiner Rückkehr aus dem Exil vorübergehend im Adlon untergekommen war, den ersten Bogen von der Geschichte und Architektur zur Kunst. Er notierte in seinem Journal den ersten Eindruck: „Berlin, eine Radierung Churchills (…) Berlin, der Schutthaufen bei Potsdam.“
Mir gefiel es sehr in Martins Atelier. Mir gefiel es schon, das zweistöckige Gebäude über den einzig möglichen Dornröschengang durch den „Schutthaufen“ zu erreichen. Der leicht betäubende Geruch von Terpentin, das Summen des Teewassers, vor allem aber Martins ruhige Arbeitsweise übten auf mich ein große Beruhigung aus. Es ging und beiden um meinen Kopf. Martin arbeitete an einer Studie, die ihn schmal und augenlos mit den Linien der Schulter und einem Rahmen in Verbindung brachte, er formte danach ein Gipsmodell. Ich selbst suchte mich von den Anstrengungen einer Doktorarbeit zu erholen, in der ich nachzuweisen suchte, dass die Entfremdung, mit der sich die sogenannte „spätbürgerliche“ Literatur auseinandergesetzt hatte, in unserem Alltag wiedergekehrt und zu Hause war. Später begriff ich, dass wir uns beide mit dem gleichen Thema befassten. Martin skizzierte Umrisse von Bäumen, Atelierinterieurs, Akte, die sich in sich zurückgezogen hatten, Menschen, die sich begegneten und dabei auf Striche reduzierten. Er liebte das Grau in der Malerei, druckte Grafiken, die schon damals abstrakt und gegenständlich zugleich waren: sich überkreuzende schwarze Linien und Flächen, die die Phantasie des Betrachters auch als Hauswände, spitze Turmkreuze, Zäune Torbögen oder Dachgiebel ausmachen konnte. Inzwischen sind seine Bilder farbiger geworden, kleinere Farbfelder fügen sich zusammen, durch ihre Struktur voneinander begrenzt. Größere Flächen erscheinen wie Blöcke, die sich öffnen, übereinanderschieben, aber nicht mehr monochrom sind. Martin Seidemann hat die Ausbildung vieler Künstler begleitet. Er ist ein bekannter und gefragter Lehrer. Vielleicht sind ihm deshalb immer die Grundlagen, die fünf bildnerischen Formelemente bewusst: „Punkt, Linie, Fläche, Hell-Dunkel, Farbe“. Über diese, wie Paul Klee sagt, „lebendigen Elemente“ verfügt er, um Schönheit zu finden, um Fremdheit zu reflektieren, „wo der Sprung vom Chaos zur Ordnung gelingen kann.“
1.9.2009 – Gesine Bey