Martin Seidemann

Mit banger Deutlichkeit...

oder wie von Wellen überspielt, führen Spuren durch die Bilder: Den Augenblick festzuhalten ohne ihn erstarren zu lassen. Erkenntnisse zu erfassen, um ihr entgleiten zu fühlen. In eine Fremdheit vorzustoßen ohne sie zu verletzten. Hier ist noch immer alles in allem zu erfahren, nie getrennt in Höhen und Tiefen, zerrissen von bitterem Grauen oder schwebender Trunkenheit. Einfach dem momentanen Erleben seine unteilbare Existenz zu gewähren und der zweifelnden Hoffnung zu entsagen, die „in ihr Herz den eigenen Widerspruch senkt.“ (Foucault).

Berührungen von solcher Klarheit können und müssen wir nicht suchen: unser Leben ist unsichtbar davon durchdrungen. Nur unsere Sensoren sind nicht deutlich darauf eingestellt. Trotzdem ist in manchen Momenten das Einfachste greifbar nah, wie in diesen Bildern, mit denen Seidemann seiner eigenen Klarheit zuarbeitet. Das sichtbare Ergebnis allerdings verbleibt als unbewußtes Selbstbekenntnis im Zustand reifster Unschuld: eines Suchenden, der sich weder zur Allwissenheit über andere erhebt noch seinem Nichtwissen sich erlegen gibt.

Jede Zeichnung befördert die Frage, die ihr zu stellen wäre. Jede bringt Verwirrung in das Sichergeglaubte, eine winzige Verschiebung im Blickwinkel, die ein Geheimnis zum Sprechen bringt. Das Dickicht so zu sondieren bedeutet, aus der Welt eine Möglichkeit zu machen. Sofort führen neue Wege zu weiteren Verzweigungen, die sich im Gestrüpp verlieren. Wie mit den Mauern zwischen uns, die wir niederreißen, um neue zu errichten, die uns schützen sollen. So erleben wir uns, ruhelos ruhend im Gewirr der Möglichkeiten und im Verstreichen der Zeit, die in ihren eigenen Ruinen haust, und erwarten uns selbst mit banger Deutlichkeit.

Ralf Bartholomäus Mai 1992
(Ausstellungskatalog 11 Künstler aus Prenzlauer Berg in der Schweiz)
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