Martin Seidemann

Aus dem Katalog: Wochenmarkt und Knochengeld

Dies ist eine Landschaft wie ein blauer Traum, aber es handelt sich auch um ein Wachbild. Ein Bild der Hoffnung allemal - schließlich ist es im alles wendenden Jahr 1989 entstanden. Zu diesem Zeitpunkt hat Martin Seidemann die Meisterschülerschaft an der Akademie der Künste als geschützten Freiraum der Suche und des Findens, des künstlerischen Experimentierens ohne Existenzrisiko bereits drei Jahre hinter sich gelassen. Neben der Malerei widmet er sich auch dem Bildhauerischen. Wie bei vielen Kollegen Ostberliner Herkunft ist die Figur fester Bestandteil seiner Malerei. Mit feinem Gespür für deren Kraft- und Konfliktpotentiale, für innere Zustände und wachsenden Druck erkundet er ihre Form und Position im Raum. Seidemanns Werk weist architektonische Strenge und festgefügte Bildstrukturen auf, die Kompositionen sind exakt vorbestimmt und umgesetzt. Meist kommen dunkle, erdige Farben aufs Papier. Es handelt sich, ohne Verzicht auf Unmittelbarkeit des Ausdrucks, um disziplinierte, wohlabgewogene Malerei mit klarem Konzept. Meist entsteht ein imaginärer Bildraum, der nur entfernt oder gar nicht an natürliche Ab- oder Vorbilder erinnert. Anders verhält es sich mit dieser „Pankower Landschaft”, eine von zwei Arbeiten Seidemanns in der Sammlung. Trotz des für Berliner erkennbaren realen Orts sind dessen Dominanten nicht illustrativ beschrieben. Sie werden vom Maler assoziativ als eine Art Kürzel in die Bildfläche geschoben. Die Perspektive des aus der Höhe Blickenden erfasst im linksseitigen Rundblick ruhende gelbe Giebel auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Hinter denen staffeln sich bis zum Horizont hin dunkle, mit wenigen kontrastierenden Farbflecken erhellte Häuserzeilen. Am rechten unteren Bildrand werden zwei große Köpfe sichtbar. in einen hat der Maler mit roter Farbe seine Initialen und das Jahr geschrieben. Der Blick beider von hinten im Anschnitt präsentierten Figuren ist auf die inselgleich, umgeben vom wogenden Häusermeer, ruhende Pfarrkirche gerichtet. Links und rechts des roten Ziegelsteinbaus brodelt tagsüber dichter Verkehr, quietschende Straßenbahnen biegen in beide Richtungen zu den am nördlichen Stadtrand gelegenen Wohngebieten ab. Jetzt aber herrscht absolute Ruhe.

Seidemanns atmosphärisch knisterndes Bild lebt von der Dynamik wechselnder Farbrhythmen, vom impulsiven zeichnerischen Gestus dicker schwarzer Linien und dem lockeren Maiduktus transparent bleibender Flächen: eine stimmungsreiche, gedankenvolle blaue Nacht. Dabei deutet in dem Bild nichts auf großstädtische Abenteuerlust oder ausflippendes Vergnügen hin. Pankow ist nicht die City, zudem gab es noch die polizeiliche Sperrstunde. Wir sehen eine stille Pankower Nacht. Und die schmale blaugraue Horizontlinie am oberen Bildrand kündigt schon den anbrechenden Morgen an.

Astrid Volpert

20vw