Martin Seidemann

Glissando der Farben

250. Ausstellung der Berliner Galerie am Prater mit Martin Seidemann

Seit 1973 hatte sich die zweitälteste kommunale Galerie des Berliner Ostens, die Galerie am Prater, vornehmlich den Künstlern des Berliner „Montmartre“, des Prenzlauer Bergs, verschrieben. Man suchte nach einer verpaßten und vergessenen Moderne, die hier aufzuleben begann. Auch nach der Wende hielten Künstler und Publikum der Galerie die Treue, viele neue aus dem Westen kamen hinzu. Ihren Balanceakt zwischen Regionalem und Überregionalem hat die Galerie mit experimenteller, widerspruchsvoller Gegenwartskunst erfolgreich fortgesetzt.

Die 250. Ausstellung widmet sich nun dem zurückgezogen in Berlin und im Havelland lebenden Martin Seidemann. Es ist zudem seit sechs Jahren wieder die erste Einzelausstellung des Künstlers in seiner Geburtsstadt, und was er zeigt – Malerei und Arbeiten auf Papier, läßt den Atem stocken. Seidemann erfindet Strukturen im Ungeformten, und das Ungeformte selbst richtet sich in bestimmten Strukturen ein. Er schichtet Farbmaterie, zieht eine Spur, setzt Form an Form, ein von Segment zu Segment überspringendes Gewebe aus sich vermischenden wie kontrapunktischen, dunkel gebrochenen Farben: Texturfeldern mit Kürzeln, Spuren, Abdrücken, von Erosionen, Knitterungen, Rissen, Furchungen,Gräben und Sprüngen unterbrochen, zu gegenständlichen Restformen gerinnend. Das Facettenhafte dieser Arbeiten hängt mit dem Collageprinzip zusammen, dem Zusammenspiel unterschiedlicher Materialien. Die Fläche wird verletzt, überstrichen und erneut aufgebrochen, es entstehen Schicksalsbilder, wie alte Mauern ihr Schicksal haben. Viel Menschen scheinen an ihnen vorbeigegangen sein, anonym, aber nicht ohne Spuren zu hinterlassen. Es sind Spuren von Plan und Willkür, Absicht und Zufall, und doch ist jede eine Markierung von existentiellem Gewicht, eine Manifestation von Leben.

Aus solchen individuellen Begegnungen, aus Annäherungen, Dialogen wachsen die Arbeiten allmählich zusammen und werden zu eigenen Bildern: nackt und armselig in ihrer Materialstruktur, dann wieder gleißend wie im Glissando von Tönen und Lichtern. Und doch ist alles Malerei, das Spiel von Farben und Formen. Das Bild ein Gegenüber, das Bedürfnisse und Erregungen weckt.

Prof. Klaus Hammer
Der Tagesspiegel / Dienstag, 15. März 1999

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