Martin Seidemann

Den Impulsen eine Form geben

Martin Seidemann hat sich früh sein Gefühl für Rhythmus und Komposition vor allem am Thema des Figürlichen erarbeitet. Auf diesem Fundament entwickelte er eine Bildsprache, die sich zunehmend vom Motiv löste. Der im Bild ausgefochtene Widerstreit zwischen Körper, Raum und Fläche und seine Bändigung in ausgeglichener Formzusammenfassung hat sich konsequent auf farbige Flächen und Strukturen verlagert. In seinem bereits 1907 erschienenen Buch Abstraktion und Einfühlung sprach Wilhelm Worringer vom stärkeren Selbstentäußerungstrieb im Abstraktionsdrang 1 . Tatsächlich führte eben jener Antrieb, dem besonders seit den frühen 1980er Jahren viele von Martin Seidemanns Generationsgefährten im Osten Deutschlands kompromisslos gefolgt waren, zu neuen künstlerischen Orientierungen. Maler wie beispielsweise Volker Henze, Michael Kain, Achim Niemann, Joachim Böttcher, Jörg-Uwe Jacob oder Harald Toppl begannen mit dem vorherrschenden und durch die Traditionen der Lehre an den Kunstschulen bestärkten Konsens, dem Motivischen verpflichtet zu sein, zu brechen. Dieser Bruch war weniger von der Ablehnung des Vorhandenen bestimmt als vielmehr von dem Drang nach Erweiterung des bildnerischen Vokabulars. Die Frage des Möglichen in der Kunst wurde neu und anders gestellt. Das war auch mit der Suche nach neuen Vorbildern und Wahlverwandten verbunden. In der Grafik war es Dieter Goltzsche, in der Malerei vor allem Horst Zickelbein, der den Jüngeren Mut machte, andere Pfade zu betreten. Für Martin Seidemann bedeutete es, seinen Themen auf neue Weise gerecht zu werden, seinen Impulsen unmittelbar zu folgen und Zustände mit bildnerischen Elementen sichtbar zu machen, die des Umweges einer Motivbeschreibung nicht mehr bedurften. Erlebte Urbanität findet ihren Ausdruck im lebendigen Organismus gemalter Strukturen. Kühne Draufsichten, aufgeklappte Perspektiven, Schluchten und sich öffnende oder schließende, einander überschneidende Räume scheinen transformiert im Wechselspiel gemalter Flächen. Kompakte Formen mit schrundigen Oberflächen, die mitunter zeichenhafte Kratzspuren aufweisen, bestimmen die Tektonik der Farblandschaften. »Die Formen, die einander zuvor alle auf andere Weise gekannt haben, treten nun doch wieder hervor, ihre Schwerkraft wird umso deutlicher, als sie der Trägheit entkommen sind.« 2 Schweres Schwarz ist in den Bildern Martin Seidemanns aufgefangen im tiefen Blau oder Rostrot. Vermittelndes Grau beruhigt den oft starken Kontrast zum Weiß. Trockene oder stark verdünnte Farben machen die Spuren des Pinselzugs sichtbar. Farbspritzer und Tupfen, feine Striche, Inseln getrockneter, durchlässiger Farbe bilden bewegte Oberflächenstrukturen. Sie brechen die strenge Tektonik auf Wie die Haut alternder Architekturen, die die Körper dahinter vergessen macht, entfalten sie ihr lebendiges Spiel zwischen atmender Gegenwart und Vergänglichem. Zufällige Strukturen und spontane Gesten scheinen sich beinahe trotzig gegen ruhige Form aufzulehnen, um schließlich gebändigt im Gefüge der Bildkompositionen ihren unverrückbaren Platz zu finden. Philip Guston sprach 1958 einmal davon, dass das »Unvorhergesehene dann doch unausweichlich vorgesehen war«. 3 Dem Interesse an der Stofflichkeit der Farbe folgte bei Martin Seidemann die Neugier auf unterschiedliche Materialien, wie sie die Collage bietet. Sie gewann in den letzten zehn Jahren im Werk des Malers zunehmend an Bedeutung, ermöglicht sie doch eine größere Freiheit. Der Zugriff auf die Elemente des Bildes wird durch Wegnehmen und Hinzufügen, überkleben direkter. Die unterschiedlichen Angebote des Materials werden dankbar genutzt. Falten geknitterten Papiers, Transparenz, Deckkraft oder Faserstrukturen verschiedener Papier- und Papp-Arten treten in Dialog mit der Malerei, die stets die Balance zwischen offener Leichtigkeit und gebundener Schwere sucht. Wenngleich man Martin Seidemanns Bilder nicht in die Tradition typischer Berlinbilder stellen kann, haben sie dennoch etwas zutiefst Berlinisches das Kolorit. Im Vergleich etwa zur Dresdener Farbkultur gibt es in Berlin eine Tradition des kühlen Kolorits. Darin manifestiert sich die Verinnerlichung einer besonderen, vom Licht bestimmten Atmosphäre Berlins. So wie man das Kolorit in der venezianischen Malerei deutlich von dem der Florentiner unterscheiden kann. Die Kühle verwendeter Farbe kommt auch einer bevorzugten Nüchternheit entgegen. In den Bildern Martin Seidemanns manifestiert sie sich in einer Art Zügelung des Temperaments. Spontaneität wird zwar zugelassen, jedoch immer kontrollierend hinterfragt. Dies umso mehr, als der Maler auch als lehrender wiederholt die unterschiedlichen Wege zum Bild erkundet hat. Er entwickelt den Rhythmus seiner Bildtektonik aus dem wiederholten Aufbrechen der Formen. Er nimmt ihnen das ObJekthafte und lässt sie zu dynamischen Zeichen werden. Dominante schwere Flächen werden mit der malerischen Geste in Frage gestellt, bleiben Farbmasse im Bild, die - je nach Nachbarschaften - nach vorn oder zurück tritt. Schon erste Notate im häufig mitgeführten Skizzenbuch zeigen die Verwandlung gesehener Formen in Farbmassen, die als Flächen und Strukturen im dynamischen Widerstreit eine Balance zum Bild finden.

Anita Kühnel

  1. Vgl. Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung, Leipzig und Weimar: Kiepenheuer Verlag 1981, S. 22.
  2. Zitiert nach: David Sylvester, Gespräch mit Phiilp Guston, Bern: Piet Meyer Verlag 2013, 5. 37
  3. Ebenda
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